11. Mißbrauch 1)

1. Wann spricht man von Missbrauch?
Missbrauch ist in erster Linie Machtmissbrauch. Er zeigt sich in der Regel in einer Mischung aus physischer, emotionaler und/oder sexueller Gewalt.
Missbrauch heißt: Einer, der stark ist, der Macht hat, meist Fürsorgemacht besitzt (Vater, Mutter, Pfarrer, Lehrer, Arzt...) gebraucht einen Schwächeren. Nicht das Wohl und die Entfaltung des Schwächeren stehen im Mittelpunkt, sondern die Lustbefriedigung des Stärkeren.

1.1. Verschiedene Formen des Missbrauchs
Physischer Missbrauch
Alles, was am Körper eines Menschen entweder aktiv (Schläge) oder passiv (Vernachlässigung) geschieht, ohne dass der Betreffende sich dagegen wehren kann (weil er dem Täter unterlegen ist).
Körperliche Misshandlung:
- schwere Körperverletzung,
- Schlagen,
- Verbrennen oder Verbrühen,
- Treten,
- Würgen...

Vernachlässigung (kann körperlicher, seelischer oder erzieherischer Art
sein):
- das Kind sich selbst überlassen,
- Krankheiten des Kindes nicht behandeln lassen,
- mangelhafte Aufsicht,
- Vernachlässigung des Bedürfnisses nach Kontakt,
- unzureichende hygienische Pflege,
- unzureichende Versorgung mit Nahrung...

Emotionaler Missbrauch:
Diese Form des Missbrauchs liegt vor, wenn Schwächere (z.B. Kinder) mit Worten oder Handlungen unter Druck gesetzt werden:
- durch Angriffe mit Worten (ich erschieße Dich, du bringst mich noch ins Grab, du Weichling, du bist hässlich...),
- durch Einsperren,
- durch mangelnde Zuwendung, Mutter/Vater sind mit sich selbst beschäftigt oder überfordert (mit behindertem Kind, Krankheit, Arbeit...),
- durch extreme Strenge (was nicht tötet macht hart...),
- durch extreme Strafen,
- Gedanken an Abtreibung, versuchte Abtreibung,
- Hineinpressen der Kinder in ein Erfolgsschema; Kinder als letzte Erfolgschance für die Eltern (Ich habe auf so vieles verzichtet, damit du das tun kannst, was ich immer tun wollte und nicht konnte...),
- Kind als Seelsorger der Mutter/des Vaters (Probleme mit dem Partner, anderen Kindern...),
- Kind als Partnerersatz (bei Alleinerziehenden, Scheidung, Krieg...)

Geistlicher Missbrauch:
Eine Form von Machtmissbrauch, bei der Leiter, die Fürsorgemacht haben, ihre Gemeindemitglieder im Namen Gottes in ein System von Kontrolle hineinmanipulieren und unter Druck setzen, um damit ihre eigene Identität aufzuwerten.

Sexueller Missbrauch:
Von sexuellem Missbrauch ist zu sprechen, wenn Erwachsene ihre Lust, ihre Sexualität an einem Schwächeren (z.B. einem Kind) befriedigen:


Verbal:
- abwertende Bemerkungen über die Geschlechtsorgane des Opfers, direkte Aufforderungen zu sexuellen Handlungen,
- Beschreibung sexueller Praktiken,
- Benutzung von sexuellen Ausdrücken als persönliche Namen...

Visuell:
- Zeigen von Pornographie und Videos,
- Benutzen der Opfer zur Herstellung von solchen,
- absichtliches Zeigen von Geschlechtsorganen, von sexuellen Handlungen des Täters,
- unangemessene Beachtung des Körpers des Opfers zu Zwecken der sexuellen Stimulation...

Direkte Körperberührung:
- intimes Küssen, Streicheln, Masturbation, Oralverkehr, Analverkehr, vaginaler Verkehr...

1.2. Verschiedene Stufen des sexuellen Missbrauchs

Missbrauch geschieht in der Familie und im familiären Umfeld, . Statistisch ist belegt, dass die meisten Fälle von Missbrauch nicht von Fremden sondern von Mitgliedern der eigenen Familie ausgeübt werden.

Stufe 1: Entwicklung von Intimität und Verschwiegenheit
Das Kind ist hungrig nach Zärtlichkeit, Geborgenheit, Liebe..., aber die Familie kann ihm das nicht geben. Oft ist da die Atmosphäre von Gewalt, Misstrauen, Härte, Ignoranz, Gesetzlichkeit, Strenge, Unnahbarkeit...
Der Missbraucher versucht, das Kind mit selbstsüchtiger Liebe, Geschenken usw. an sich zu binden.
Das Angebot von Beziehung, Vertrautheit, besonderen Vorrechten und Belohnung ist für das Kind wie Wasser für einen Verdurstenden. Es bekommt ja sonst keine oder zu wenig Nähe.
Die Forderung des Missbrauchers ist Verschwiegenheit.

Stufe 2: Scheinbar angemessener Kontakt
Durch die Vertrautheit von Stufe 1 sehnt sich das Kind nach Umarmung, Berührung, gehalten zu werden... Dieses Verlangen ist aber kein sexuelles Verlangen sondern das Verlangen nach Geborgenheit und Nähe, nach Bestätigung seiner selbst, Trost und Genuss auf nichterotischer Ebene.
Der Missbraucher nützt dieses Verlangen für sich aus und macht so das Kind abhängig. Ganz vorsichtig beginnt er, immer unter dem Siegel der Verschwiegenheit, und holt sich immer mehr.
Die Grenze ist für das Kind nicht erkennbar, daher hat es oft hinterher auch mit sehr starken Schuldgefühlen zu kämpfen, es wollte das ja, es war anfangs ja auch schön...

Stufe 3: Sexueller Missbrauch im eigentlichen Sinn
Sexueller Missbrauch ist der letzte Schlag gegen die Seele des Opfers. Es ist der Höhepunkt des Betrugs, wo das Schöne und Gute der Beziehung, Nähe und Geborgenheit, Liebe und Zuwendung "verspottet" und pervertiert wird. Der Missbraucher wollte nicht - wie das Opfer es eigentlich dachte - eine Beziehung aufbauen, sondern sich an ihm sexuell befriedigen.
Es ist ein gemeiner Betrug, der nicht nur die Beziehung des Opfers zum Missbraucher zerstört, sondern auch die zur eigenen Identität, zum Gegenüber und zu Gott.
Das Empfinden von Nähe, Geborgenheit, Liebe..., der Wunsch nach Beziehung, wird nun für das Opfer zum Objekt des Hasses, denn genau dieser Wunsch nach Geborgenheit und Beziehung hat die Katastrophe herbeigeführt.

Stufe 4: Beibehalten des Missbrauchs und des schändlichen Geheimnisses durch Drohungen und Versprechen
"Wenn du etwas erzählst komme ich ins Gefängnis und die Mama hält das nicht aus und bringt sich um, die Familie fällt auseinander..."
Mit dieser Last zu leben ohne irgendjemanden einweihen zu können, bringt die meisten Opfer dazu, alle Gefühle in sich „abzutöten“ und die Flucht aus dem inneren und (wenn möglich) auch äußeren Kampf zu ergreifen.
Die Flucht in eine andere Welt erfordert eine neue Identität und Vergangenheit, sowie ein Begraben der schlimmen Ereignisse. Zorn und Genuss werden beide in der Seele tief vergraben, wobei es keine Gelegenheit zur Trauerarbeit gibt.
Die Auswirkungen des Schadens bleiben bestehen.


2. Auswirkungen des Missbrauchs

2.1. Der Missbrauch zerstört die Grenzen der Persönlichkeit, der Identität
Allen Menschen ist eine individuelle nur ihm eigene Persönlichkeit zugedacht - durch individuelle Grenzen, Schamgrenzen - als Frau, als Mann, mit Namen – nie unpersönlich.
Das Kind ist, wenn es auf die Welt kommt noch ganz von den Eltern abhängig. Es muss von ihnen versorgt und geschützt werden, so lange, bis es für sich selbst sorgen kann.
Die Grenzen seiner Persönlichkeit müssen Stück für Stück aufgebaut werden. Dazu braucht es die Hilfe der Eltern.
Je älter es wird, desto mehr lernt es, sich als eigenständige Person wahrzunehmen und Dinge auch selbst zu tun. Es probiert Dinge aus, es grenzt sich ab (z.B. Sauberkeitserziehung). Es bemerkt, dass es anders ist als Vater und Mutter, es entwickelt eigene Gefühle, Gedanken, einen eigenen Willen.
In der Pubertät beginnt es dann, sich auch äußerlich von den Eltern abzugrenzen.
Je jünger das Kind beim Missbrauch ist, desto schlimmer die Folgen. Wir können uns das vorstellen wie bei einem Ei: das Ei ist „verletzlicher“ je kürzer es im kochenden Wasser liegt; wenn frühzeitig die „Grenze“ (Schale) zerstört wird, läuft das Ei aus.
Werden nun beim Kind natürliche Schamgrenzen verletzt, kommt es zur Entwicklung einer krankmachenden Scham, d.h. die verletzte Person baut „meterdicke“ Schammauern um sich herum auf, durch die niemand mehr eindringen kann oder soll, um sich vor dem "Auslaufen" zu schützen.
Die Botschaft der Scham lautet: "Schotte dich ganz gegen andere ab, sonst wirst du wieder verletzt!" Ein solches Leben erscheint uns wie der Rasen, an dem das Schild steht: „Betreten verboten!“
Die Identität des Kindes wird in einem "Bunker" eingesperrt, es kann nicht mehr unbeschwert in seinem "Garten" leben und sich weiterentwickeln. Es muss jetzt überleben, für sich selber sorgen, sich selber schützen.
Das Kind denkt nun nicht so, dass Papa oder Mama schuld wären. In den Augen des Kindes sind die Eltern allmächtig und völlig richtig. Es kann nicht offen wütend werden, da es auf die Eltern angewiesen ist.
Es merkt nur: irgendetwas ist nicht in Ordnung. Es ist verwirrt, aber weil Erwachsene keine Fehler machen, muss es selbst falsch sein: "Schlimme Dinge passieren nur schlimmen Leuten, also bin ich schlimm. Irgendetwas muss an mir falsch sein: ich bin schlecht, ich bin schuld. Wenn mir so etwas passiert, dann liegt das wohl an mir. Ich muss anders sein... Folgen sind das Absterben des eigenen Ichs und die Entwicklung einer angepassten (aber unbewusst rebellischen) Ersatzidentität.
Das Kind denkt das alles nicht bewusst logisch, aber sein ganzes Dasein empfindet so: Ich bin nicht OK, ich bin nicht recht, irgendetwas an mir ist falsch. Es schämt sich, es zieht sich in sich zurück.
So wird die krankmachende Scham in diesem missbrauchten Kind geboren und sie lebt weiter, bis ins Erwachsenenalter hinein in ständiger Angst vor Wiederholung des Missbrauchs oder vor dem Schmerz an die Erinnerungen daran. Das Kind im Erwachsenen muss sich immer noch in einem „Bunker“ verstecken.
Dieser Bunker mag nach außen hin zwar durchaus schön verziert sein, nach innen ist er aber tapeziert mit den Sätzen:
Ich darf nicht (so) sein!
Ich muss mich schützen!
Ich bin nie sicher!
Ich darf nicht vertrauen!
Ich bin nicht wichtig!

2.2. Die Folgen:

Verstecken:
- in Gedanken davon laufen, sich eine neue Welt erschaffen,
- keine Gefühle zulassen (verdrängen, abspalten, dissoziieren),
- Distanziertheit,
- immer wieder geistige Abwesenheit,
- Konzentrationsschwierigkeiten...
- Rationalisieren: Erklärungsmuster suchen. „Was man erklären kann, hat man ihm Griff, ist nicht mehr so bedrohlich.“ (MMan liest sich alles über den Missbrauch an, durch intellektuelles Beschäftigen braucht man sich nicht auf eigene Gefühle einlassen)...
- Abschwächen: es war ja alles gar nicht so schlimm (der Schwester/Mama ging es ja noch viel schlimmer...) - aus Angst vor dem tatsächlichen Ausmaß.
- sich verschiedene Rollen aneignen, für jede Situation diejenige, die am besten schützt (Chamäleon-Syndrom).

Sich zu verstecken widerspricht dem da sein dürfen (wer sich versteckt kann keine wirklichen Beziehungen leben).

Absichern:
- keine Männer mehr an sich heranlassen (Männerhass, alle Männer sind Täter...)
- sich einen „Sicherheitsgürtel“ anfressen (Esssucht),
- keine Frauen mehr an sich heranlassen (Frauenhass, ihnen kann man nicht vertrauen – Mutter),
- Ablehnung des eigenen Geschlechts (wenn ich keine Frau wäre, wäre mir das nicht passiert),
- möglichst maskulin und cool auftreten,
- Magersucht (nicht erwachsen werden wollen), daraus entsteht oft Ess-Brech-Sucht
- und/oder Entwicklung von homosexuellen Neigungen (ich suche im Gegenüber, was ich selbst nicht habe),
- Beziehungen kontrollieren (das passiert mir nie wieder, vorher missbrauche ich eher den anderen),
- wenn ich Sexualität habe, bestimme ich die Situation (Promiskuität, Prostitution, wahre Intimität wird nicht zugelassen),
- Ekel vor dem Partner auf der sexuellen Ebene (ich lasse es halt mit mir machen; Problem, überhaupt Lust an der Sexualität zu empfinden),
- Frigidität (niemanden an sich heranlassen können, Probleme bei Geburten),
- Kontrolle über alle Situationen (alles vorgeplant haben müssen, alles im Griff haben müssen, immer Recht haben müssen),
- Perfektionismus, der aus der Kontrolle heraus entsteht, um nicht in eine Missbrauchssituation hineinzugeraten (erst wenn ich alles weiß, kann mir nichts passieren; erst wenn ich alles richtig mache, habe ich das Recht, da zu sein...)

Die Selbstabsicherung widerspricht dem vertrauen können (sich selbst, anderen, Gott gegenüber).
Sich mit unterdrückter Aggression abplagen:
Die Wut kann nicht gegenüber dem Täter herausgelassen werden (Ohnmachtsgefühle). So kann sich die Wut gegen sich selbst richten, weil ich den Missbrauch nicht verhindert habe:
- Selbsthass (nur schlecht über sich reden),
- Essstörungen (alles mit Essen "runterdrücken", oder Bestrafung mit Essensentzug),
- Verstümmelungen,
- Depression,
- Suizidgedanken...

Wut wird gegen andere gerichtet, manchmal in einem schädigenden Ausmaß:
- gegen Personen, die an den Täter erinnern,
- gegen Menschen/ oder speziell Männer/Frauen
- Verachtung gegenüber allen (Gründe um wütend zu werden gibt es genug),
- ständiger Groll und Unzufriedenheit
- Sachbeschädigung...

Wut gegenüber Gott, er hat es nicht verhindert:
- ich glaube mit dem Verstand, aber in mir drin bin ich wütend,
- ich werde zum offenen Gegner, zum Atheisten...

Wut kann eine reife Reaktion der Abgrenzung gegen erfahrene Ungerechtigkeit oder gegenüber Menschen sein, die Unrecht begangen haben. Sie kann aber auch dazu führen, dass ich mich in meiner Verletzung unberührbar mache und damit einem Heilwerden entgegen stehen.

Sich mit Schuldgefühlen abplagen:
Kinder können nicht erkennen, wer schuld am Missbrauch ist:
- Weshalb konnte ich es nicht verhindern?
- Weshalb habe ich es schön gefunden?
- Weshalb konnte ich meinen Mund nicht halten und habe somit die Familie zerstört?
- Weshalb konnte ich meine Schwester/meinen Bruder nicht schützen?...


Oft bekommen sie die Schuld direkt vom Täter zugesprochen. Fazit: Ich bin schlecht, ich darf nicht sein, ich habe etwas ganz Schlimmes getan (bzw. nicht verhindert), meine Schuld ist so groß, die kann nie jemand wieder gut machen.
Schuldgefühle widersprechen der Erlösung unserer Schuld und der Schuld anderer durch Jesus Christus.

Mit einem ständigen Mangel und einer großen Sehnsucht nach Liebe herumlaufen:
Um nicht zu verhungern, werden ungute Wege der Bedürfnisbefriedigung eingeschlagen:

Süchte, um das Loch zuzudecken:
- Alkohol,
- Drogen,
- Erotisierung von Beziehungen,
- Beziehungsabhängigkeiten,
- Arbeitssucht,
- TV, PC-Spiele,
- Essen,
- Kaufsucht...

Zweck ist dabei, den Schmerz, den Mangel, zu betäuben und so für kurze Zeit Entlastung zu bekommen.

Früher gab es keinen Schutz gegen den Missbrauch oder den Missbraucher, der einzige Schutz war die Flucht. Heute verhindern die entstanden Schutzmechanismen das Leben. Der Missbrauchte rennt ständig gegen die Wand seines eigenen „Bunkers“ oder Gefängnisses.

3. Jeder Mensch, der missbraucht wurde, kann geheilt werden (auch wenn die Erinnerungen fehlen)

Heilung geschieht hauptsächlich in 3 Dimensionen:
- geistliche Dimension: die Verletzung Gott hinhalten,
- eigene Schutzmechanismen als Reaktion auf die Verletzung und die Täter erkennen und Schritt für Schritt loslassen,
- neue gesunde Grenzen der eigenen Persönlichkeit errichten.

3.1 Den Schmerz zulassen
Das Schweigegebot durchbrechen: in die Erinnerungen des Missbrauchs kommen
Erzählen, was geschehen ist, was weht tut, was wütend macht... dem Geschehenen eine Gestalt geben, es aus der Dunkelheit hervorholen (Die Wut: "dann bring mich um!"; die Schmerzen: "ich habe jedes Mal für Dich geschrieen!")
Den Täter benennen und ihn schuldig sprechen
Wenn wir den Missbrauch in Worte fassen, bekommt er eine Gestalt. Licht kommt in die Dunkelheit des Kerkers hinein, wir bekommen Macht über ihn und nicht umgekehrt.
Jesu heilende Gegenwart beginnt, unsere harten Schutzmechanismen, mit denen wir uns selbst vom Leben ausschließen, langsam aufzuweichen.
Wir haben heute Probleme im Leben, weil wir in einer ganz starken Defensivdistanz (Abwehrhaltung gegen Ich, du, Gott) leben. Der Missbrauch ist vorbei, aber wir leben noch so weiter, als ob er immer noch weitergeführt werden würde.

3.2. Die Schuld der anderen ist nicht deine Schuld
Die Verantwortung klarstellen: die Schuld liegt komplett beim Täter, er hatte Fürsorgepflicht. Das Opfer ist immer in unterlegener Position und konnte sich nicht wehren, unabhängig davon, ob die Gefühle etwas anderes sagen.
Schuld haben auch die Personen, die es wussten und Dich nicht geschützt haben.
Benenne die Schuld mit Unterstützung eines Therapeuten/Seelsorgers. Nenne sie klar und deutlich beim Namen. Das Alte Testament verweist auf Jesus: "Er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen" (Jes 53, 4).

Missbrauch bedroht das Opfer mit dem Tod durch die absolute Ohnmachtserfahrung. Der Tod wird fast so etwas wie ein ständiger Begleiter. Viele schließen später Freundschaft mit dem Tod. Er bleibt, so denken wir, immer noch als Ausweg, der Tod als Erlösungsphantasie (Todesverliebtheit - darüber haben wir noch die Kontrolle).
Wenn wir heil werden wollen, wenn wir leben wollen, hilft uns die Beziehung zu Jesus. Er ist von den Toten wieder ins Leben zurückgekommen, in ihm ist die Kraft der Auferstehung. Wenn wir in der Todesphantasie "verbunkert" bleiben, erfahren wir das Leben nicht.
Jesus hat mit der Auferstehung den Tod auch in uns überwunden. Wir sind aufgefordert, immer wieder die Todesverliebtheit abzugeben und aus unserem Grab der eigenen Resignation ins Leben herauszutreten. Das ist ein Lernprozess.
3.3. Die destruktiven Reaktionen auf den Schmerz erkennen und Schritt für Schritt aufgeben.
Zusammen mit einem Therapeuten/Seelsorger kannst du sehen lernen, wie das eigene Missbrauchsgefängnis aussieht. Wo lebst du im Alltag unfrei? Was macht dir Mühe...?

3.4. Einladung zu einem geistlichen Prozess: die Vergebung
Was Vergebung nicht bedeutet:
- dass man den Missbrauch einfach aus dem Gedächtnis streicht und vergisst (eine Art von Verdrängung),
- dass man das Verhalten des Täters entschuldigt (so als träfe ihn keine Schuld),
- dass man das Problem beschönigt (um des lieben Friedens Willen seine Not bagatellisiert),
- dass man den Täter akzeptiert (wir akzeptieren Menschen, weil sie gut zu uns sind, aber wir vergeben Menschen das Böse, das sie uns angetan haben),
- dass man das Verhalten des Täters toleriert (und ihm damit einen Freibrief gibt, es wieder zu tun)...

Vergebung ist das Ergebnis am Ende eines langen Heilungsprozesses: Sie ist die Tür zur Wiederherstellung gesunder Beziehungen zu Gott, zu mir selber, zum du oder manchmal sogar zum Täter.
Vergebung stellt sich dem Bösen und verdrängt es nicht. Gleichzeitig befreit sie von der Bindung und Versklavung an dieses Böse/an den Täter. (Der Dorn in der Wunde wird herausgezogen, jetzt kann die Wunde heilen).
Das braucht Zeit. Es ist eine bewusste Entscheidung. Vergebung geht nicht ohne inneren Kampf, sie ist ein Teil des Versöhnungsprozesses.
Die Beziehung zu Gott hilft im Versöhnungsprozess:
- Aussprechen, welche Verletzungen der Schuldige an mir getan hat, welche Erwartungen er in mir nicht erfüllt hat;
- Jesus erlauben, dass er uns unsere Reaktionen darauf zeigen darf (Wut, Schmerz, Trauer);
- Jesus die eigenen Reaktionen hingeben;
- Recht auf Rache dem gerechten Richter überlassen ("vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern"), er ist der gerechte Richter, er rächt uns, wir müssen es nicht selbst tun;
- Jesus die Verletzungen und nicht erfüllten Erwartungen hingeben, sich von den unerfüllten Erwartungen trennen;
- Jesus in die leer gewordenen Bereiche, in denen zuvor Hass, Bitterkeit, Enttäuschung und Leere waren, mit seiner Liebe und seinem Trost hineinbitten;
- Jesu Trost im Trauerprozess annehmen;
- Dem Schuldigen vergeben (loslassen, denn Hass bestimmt meine Reaktion, mein Leben).

All das braucht ZEIT!

3.5. Lernen, gesunde Grenzen zu setzen
- sich selbst wahrnehmen lernen; erkennen, was für mich annehmbar, was unannehmbar ist;
- die Bedürfnisse aussprechen und aushandeln;
- Nein sagen lernen.
3.6. Sich auf gute lebensfördernde Beziehungen konzentrieren
- Ausgewogenheit von Geben und Nehmen

Heilung von Missbrauch geschieht Schritt für Schritt – wir brauchen Geduld mit uns und vor allem Barmherzigkeit!

1) Quelle: www.wuestenstrom.de
http://www.wuestenstrom.de/index.dhtml/5244f464695a9d1168nh/-/deDE/-/CS/-/news/news/2006/200603/xxx1